Geben ist schwer – Annehmen ist schwieriger

Der Anfang aller Selbst-Disziplin

Wenn mich Schüler fragen, ob das Unterrichten von Yoga nicht auch mal langweilig oder doof ist, muss ich immer wieder feststellen, dass Yoga die Antwort ist. Da gibt es nicht viel herum zu reden, ich bin ein Mensch und ein Mensch begegnet sich immer wieder anders. Die Tage sind verschieden und die Gemütszustände auch, also habe ich nicht immer Lust auf das, was ich gerade zu tun habe. Wenn mich Schüler fragen würden, wie es denn mit dem täglichen Kochen sei, würde die Antwort ziemlich ähnlich ausfallen. Kochen an sich ist gut, aber ich habe nicht jeden Tag Lust darauf. Lust ist eine Sache, Disziplin eine andere. Im Yoga wie im täglichen Leben geht es immer wieder um das Thema Disziplin: den Körper und den Atem zu meistern, heißt sich selbst zu disziplinieren und nicht jeder schwierigen Herausforderung nachzugeben. Regelmäßig üben heißt sich selbst zu disziplinieren; den Ort, die Zeit und Verfassung so zu lenken, dass regelmäßiges Üben möglich werden kann. Wer das nicht gleich so gut schafft, ist noch lange kein schlechter Mensch. In der Antike bedeutete Selbstdisziplin, dass ein Mensch sich selbst gut kennt und auf diese Weise gut mit Menschen umgehen kann, um einen kultivierten sozialen Umgang zu pflegen. Das ist eigentlich eine recht yogische Sichtweise. Ob der antike Mensch die im Yoga geltende Universalregel pratipaksa bhavanam kannte? So heißt es im Yoga Sutra II.33: In der Anfechtung durch Zweifel kultiviere das Gegenteil. Das Gegenteil ist im Zweifel auch unser Spiegel, das Gegenüber, so dass die Kultivierung des Selbst eine Kultivierung des Gegenübers nach sich zieht. Das ist keine Glaubensfrage, sondern eine Übung, die es sich lohnt, im Alltag auszuprobieren. So taucht unter Yogaschülern immer wieder die gleiche Frage auf – meine Zeit ist so knapp, ich schaffe es nicht zum Yoga zu kommen, wann soll ich denn üben, wenn immer was dazwischen kommt etc. Das ist ein altes Lied, kennt jeder, auch Patanjali.

Der sagt nämlich in Sutra II.38: Wer in der Zurückhaltung fest steht, gewinnt an Kraft. Und schon sind wir mitten in den niyamas – den Verhaltensregeln für den Alltagsyogi. Na klar, wer will schon Verhaltensregeln hören geschweige denn befolgen, aber Patanjali wusste, was er tat, als er festhielt, was andere oft und gerne beiseite schieben, insbesondere wenn es um Verzicht geht. Jaaa, Zurückhaltung meint nämlich Verzicht. Man könnte auch Askese sagen, aber im Grunde geht es um nichts anderes als um Selbstdisziplin und zwar in allen 5 Regeln, die das Yogaleben vorschreibt, welche da sind: Reinheit, Zufriedenheit, Verzicht, das Studium der Schriften und die Hingabe an Gott. Das klingt erst einmal viel, ist es aber gar nicht. Schließlich geht es nur um eines – Selbstdisziplin, dann kann man sich alle fünf Regeln sicher merken. Der antike Mensch nannte es wohl Kultiviertheit, der heilige Dominikus nannte es Maß, und wir könnten es einfach sich selbst zügeln nennen. Vor meinem inneren Auge erscheint das Bild des Wagenlenkers, der symbolisch als Verkörperung des Geistes die Zügel – das sind die 5 Sinne – in der Hand hält und so das Pferd – das ist der Körper – lenkt. Die Frage lautet immer: Wer lenkt hier wen? Bei den meisten Menschen ist es der Körper oder die Sinne, am aller wenigsten ist es der Geist. Nicht ohne Grund ist das schwerste im Yoga, den Geist zu zügeln, sich zu konzentrieren, sich nicht ablenken zu lassen vom rechten Weg. An dieser Stelle fühlt sich der Leser meist erst einmal verlassen. Was soll ich denn jetzt tun bzw. was soll ich denn jetzt noch alles tun? Wie eingangs erwähnt, Yoga ist die Antwort.

Der antike Mensch war nicht besser, aber er verstand vielleicht ein bißchen besser, dass Akzeptanz ein erster Schritt zur Selbst-Disziplin ist. Ich muss mich selbst erst annehmen, dann erst kann ich annehmen, was auch immer da auf mich zukommt. Regeln kann man nur akzeptieren, wenn man sich selbst akzeptiert, denn auf wen könnte ich die Regel anwenden, wenn nicht zunächst auf mich selbst? Nur dafür muss ich mich erst einmal kennenlernen, mich finden, mich annehmen. Yoga macht also nichts anderes, als diesen Weg zu mir selbst frei zu schaufeln. Und wie so oft geht es nicht nur um die Asana auf der Matte, sondern um das tägliche Zügeln in den kleinen und großen Dingen des Lebens und da ist jeder Schritt ein Schritt in die richtige Richtung. Der Alltagsyogi muss nicht jede Schüssel leer essen oder 10 anstatt einer Tasse Kaffee trinken (Reinheit), er muss nicht jeder Veranstaltung beiwohnen (Wahrhaftigkeit), er muss nicht jedes neue Auto oder Fahrrad oder Kleid haben (Zufriedenheit) und sich nicht ständig berieseln lassen, sondern auch mal gute Gedanken mit guter Literatur oder anregenden Gesprächen pflegen (Studium der Schriften) und sich immer wieder in Dankbarkeit üben, für all die Geschenke, die das tägliche Leben uns ohne zu fragen gibt (Hingabe an Gott). Mehr ist es gar nicht. Und dann wird es passieren – der Gewinn an Kraft. Alles wird an seinen Platz fallen, denn die (Yoga) Erfahrung zeigt: Wer keine Zeit für Yoga hat, hat mehr als nur Zeit verloren. Wer sich die Zeit nimmt zum Üben, gewinnt unendlich viel mehr als nur Zeit. Mal drüber nachdenken; das ist ein guter, dringend zu kultivierender Gedanke.